Gut, daß
auch die Züge auf sich warten lassen. Aber als sie
kommen, ist dieser Zwischenfall vergessen: Die Kameras
sind schußbereit und wie beim Militär heißt es wieder:
Feuer frei, aber friedlich! Links von uns fährt der
Planzug mit 99 6001 auf dem Außengleis, rechts von uns
unser Traditionszug auf dem höher gelegenen Innengleis
der Kurve. Perfekt, perfekt, wie beide Züge auf uns
zufahren, pfeifen, dampfen, rußen und, ohne sich
gegenseitig zu verdecken, an uns vorbeifahren. Bei einer
Lok hört man das Durchdrehen der Räder auf den
ansteigenden Gleisen: Wieder ist es ein Genuß für Augen
und Ohren, was da für uns veranstaltet wird. Es war
Parallelfahrt Nummer vier von vier. Verlangen Sie bitte
nicht von mir, mich für eine davon entscheiden zu
müssen. Ob Dampfzug und Wipperliese, Drei Annen Hohne,
Eisfelder Talmühle oder Alexisbad - jede Fahrt für sich
war ein Erlebnis unvergleichlicher Art. Jede
Parallelanfahrt war anders, und jede war schön. Genau
diese Frage diskutieren wir auf dem Weg zurück ins
Restaurant, wo wir den Rest unseres Mittagessen genießen
können. Wir kommen alle zum selben Ergebnis: Man kann
sich nicht entscheiden, und schließlich muß man sich ja
auch nicht entscheiden. Nehmen wir alle Fotohalte und
Scheinanfahrten auf dieser Studienfahrt als das, was sie
letztlich sind: eine hervorragende Leistung des
Personals, eine Wonne für alle Sinne und eine
wunderschöne Erinnerung an diesen einzigartigen
Dampfplanverkehr der Harzer Schmalspurbahnen.
Kurz nach Alexisbad gelangen wir ins Selketal, jenen
Streckenteil, der der Selketalbahn ihren Namen gegeben
hat. Die Selke ist ein kleines Flüßlein, das sich durch
eine romantische Landschaft windet. Das Tal ist eng. Auf
einer Seite ragen Felsen und Berge auf. Hier fährt die
Bahn. Direkt neben dem Gleis ist das laubbaumbestandene
Ufer der Selke, deren andere Seite von einer Straße
begrenzt wird. Durch die
Bäume ist es schwierig, einen durchgehenden Blick auf
das Wasser zu erhalten. Wenn er aber da ist, ist er
herrlich. Im Bett der flachen Selke sammelt sich allerlei
Gestein an, das, vom Wasser in jahrhundertelanger Arbeit
glatt geschliffen, in der Sonne wie Silber glänzt. Die
Selke schlängelt sich durch das enge Tal, und ihrem Lauf
folgt die Bahn. Rechts, links, ein kurzes Stück gerade,
durch einen Fels hindurch geschlagen, fällt die Strecke
bis Mägdesprung ab, steigt wieder über 100 Meter an und
führt schließlich wieder abwärts nach Gernrode. Die
Geräusche der Natur verbinden sich mit denen der
Dampflok, nicht einmal die am anderen Ufer fahrenden
Autos können die Romantik dieser Strecke stören. Man
fragt sich zuweilen, was zuerst da war: der Bach oder die
Bahn. Es herrscht einvernehmliche Harmonie. Ich frage
mich, wie es an Regentagen oder im Winter hier aussehen
mag, und kann es mir nicht vorstellen. Dieser warme
Sommertag im Selketal verdrängt alle Gedanken an tief
hängende Wolken, an Kälte, an Traurigkeit oder
Überdruß. Dieser Tag bewirkt eine so positive Stimmung,
daß Sie eigentlich alles Schön finden, was Sie sehen.
Es mag ein Traum sein, aber manchmal darf man auch mit
offenen Augen träumen. Noch zwei
weitere Fotohalte, die Scheinanfahrten sind, folgen und
lassen uns das Kontingent an Filmmaterial für den
heutigen Tag restlos überschreiten. Viel zu schnell sind
wir in Gernrode angekommen, dem Ort, an dem wir uns für
diese Studienfahrt von den Harzer Schmalspurbahnen
verabschieden müssen. Die Disziplin und Schnelligkeit
der Verkehrsfreunde Stuttgart hatte dafür gesorgt, daß
wir mehr Fotohalte auf der heutigen Fahrt absolvieren
konnten, als geplant waren. Es besteht deshalb die
Möglichkeit, nicht nur das Depot der HSB in Augenschein
zu nehmen, sondern auch den ersten Sonnenbrand des Jahres
einzufangen. In einem
kleinen Verkaufsladen versorgen wir uns mit Flüssigem
und warten am Bahnsteig der DB auf den Zug, der uns nach
Halberstadt bringen wird. Ein
ehemaliger DR-Schienenbus, eine sogenannte Blutblase mit
Beiwagen, fährt uns nach Quedlinburg, wo wir für die
nächsten 20 Minuten den RegionalExpress nach Halberstadt
besteigen. Hier ist das Kontrastprogramm des Tages
angesagt: eine Straßenbahnrundfahrt. Tagsüber Dampf und
scheinbar unberührte Natur, spät nachmittags
Straßenbahnen in einer Stadt. Wer will
(oder nicht mehr will) kann jetzt aussteigen aus dem
Programm und direkt zurück nach Wernigerode fahren. Ich
hatte mich vorher zu dieser Straßenbahnrundfahrt
angemeldet und bleibe in Halberstadt, obwohl es mir sehr
schwer fällt, Sie nach diesem herrlichen Tag mit Dampf
und Selke umzustimmen auf das Leben einer Großstadt in
Feierabendstimmung. Die
Straßenbahn in Halberstadt entwickelte sich aus einer
Pferdebahn, die seit 1887 bestanden hatte. 1903 war der
elektrische Betrieb mit 15 Trieb- und 3 Beiwagen
eröffnet worden. Aus den zwei Linien der Pferdebahn
waren 4 Linien geworden, alle in der Spurweite von 1000
mm. 1909 wurden 6 Linien betrieben. Doch die Inflation
forderte ihren Tribut: 1923 war nur noch eine Linie vom
Bahnhof zum Fischmarkt in Betrieb. Ab da ging es wieder
aufwärts: 1933 umfaßte die Strecke 4 Linien, die mit 29
Trieb- und 7 Beiwagen befahren wurden. Halberstadt wurde
am 8. April 1945 zu über 60% zerstört. Der
Straßenbahnbetrieb kam völlig zum Erliegen. Vier Jahre
später ist das gesamte Streckennetz wieder in Betrieb.
1974 werden bereits 25 000 Fahrgäste täglich in 19
Trieb- und 11 Beiwagen befördert, aber erst 1983
erfolgte die Wiedereinführung von Liniennummern. Fünf
Jahre später ist der Name von VEB Städtischer
Nahverkehr Halberstadt in VEB Nahverkehr Halberstadt
geändert worden. Die nächste Namensänderung erfolgte
1992, als aus dem volkseigenen Betrieb die
"Halberstädter Verkehrs-GmbH" (HVG) wurde.
Heute betreibt man ein Netz mit insgesamt knapp 17 km
Länge. Ungefähr
1½ Stunden soll unsere Straßenbahnrundfahrt dauern,
wobei ein Teil des Netzes befahren werden soll. Zwei GT4
aus Freiburg, ehemalige Stuttgarter, waren dafür
vorgesehen. Die Mitarbeiter der HVG haben aber einen
Plan, der eine Netzbefahrung vorsieht. Wir hatten ja auf
der Fahrt vom Brocken festgestellt, daß sich die
Verkehrsfreunde im Laufe einer Studienfahrt von
Eisenbahnfans zu Eisenbahnfreaks entwickeln, und hier
wird nun der Beweis angetreten: Wenn schon der Plan der
zuständigen Verkehrsbetriebe eine vollständige
Netzbefahrung vorsieht, obwohl sie nicht geplant war,
dann muß man dieses Angebot auch nutzen und tun, was zu
tun ist: Straßenbahn spielen, aber richtig! Die Zeit
ist unser größtes Problem: Wenn wir also das ganze Netz
befahren wollen und trotzdem pünktlich um zehn vor acht
am Zug nach Wernigerode sein möchten, müssen wir
Querverbindungen befahren, die üblicherweise nicht
befahren werden. Dazwischen muß den Verkehrsfreunden,
die vorher nach Hause wollen, die Möglichkeit dazu
gegeben werden. Es entstehen Diskussionen, ob es
überhaupt eine frühere Gruppe gibt, wer mit welcher
Gruppe fährt und mit welchem Gruppenfahrschein (immerhin
gibt es zwei) und vor allem wann. Schließlich fahren
doch alle mit, weil das Gerede viel zu lange dauert, und
ein möglicher früherer Zug schon längst abgefahren
ist, bis die Verantwortlichen zu einem Resultat gekommen
sind. Das
Personal hat es wirklich schwer, uns noch ein paar
schöne Stunden in Halberstadt zu präsentieren, aber sie
schaffen es. Sei es an der niveaugleichen Überquerung
der Straßenbahn mit den Gleisen der DB AG, bei der
Einfahrt zum Depot oder mitten auf der Straße, mitten in
der Stadt - es gibt Fotohalte ohne Ende, sehr zum
Unwillen und Entsetzen der Autofahrer links, rechts und
hinter uns. Wir
erreichen eine der drei Endpunkte des Netzes, die mit
einer Schleife versehen sind. Während unsere beiden
Bahnen in die Schleife einfahren, kommt der Planzug, der
lediglich die Richtung ändert und nicht durch die
Schleife muß. Unser erster Straßenbahnzug ist knallrot,
die Werbung macht's. Der zweite GT4 trägt die grüne
Stadtfarbe von Halberstadt, die auch der Planzug hat. Wir
denken, es sei eine gute Idee, die beiden grünen Züge
nebeneinander aufzunehmen, den Sonderzug aus der Schleife
heraus, den Planzug auf die Strecke nach der Schleife
einmündend. Voraussetzung ist aber, daß der Planzug auf
jeden Fall hinter dem Sonderzug bleibt, denn der Planzug
ist ein Pendelzug, der nie den Hauptbahnhof erreicht.
Würde er sich zwischen die beiden Sonderzüge
schmuggeln, müßte der hintere, grüne Zug bis an sein
Straßenbahnende mit dem anderen pendeln und die im
Sonderzug befindlichen Verkehrsfreunde dürften nie mehr
den Fernsehturm von Stuttgart erblicken. Ulf Weidle hatte
die Idee zu diesem Fotohalt und spurtet los zum Fahrer
des Planzuges. Ein Nicken - es kann los gehen. Langsam
fährt der vordere, rote Sonderzug auf die Strecke, unser
grüner Zug wartet, bis der Planzug gleichauf ist. Aber,
so ganz traut er der Sache nicht: Millimeter um
Millimeter schiebt er sich vorwärts und blockiert die
Strecke für den Planzug, damit dieser ja nicht auf die
Idee kommt, sich dazwischen zu schieben. Wir können uns
vor Lachen kaum halten. Ist es doch zu schön, den
Machtkampf der zwei Fahrzeuge zu beobachten.
|