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Harz plus

Studienfahrt der Verkehrsfreunde Stuttgart

Ein Fahrtbericht von Bettina Plettig

Mittwoch, 26. Mai 1999

Der erste richtige Gang heute morgen - nach den vielen Gängen zum Frühstücksbüffet - führt uns wieder an die altbekannte Stelle am Bahnhof Wernigerode. Heute erleben wir die Drehscheibe im Einsatz. Obwohl es über eine Stunde früher ist als gestern, herrscht schon eifrige Emsigkeit. Loks werden geputzt, Züge rangiert und zusammengestellt. An allen Ecken und Enden wird vorletzte und letzte Hand angelegt, bevor der Rummel richtig los geht. Unser heutiger Sonderzug steht schon bereit. Ich sage nur drei Worte: "Die wilde Dreizehn". Lok Nummer 13 der NWE zieht für uns Wagen des Traditionszuges. Anders als die Wagen der Harzquerbahn sind sie grün, wie es sich für einen Traditionszug gehört. Genau so sieht auch unsere Dampflok aus: grüne Verkleidung und schwarzer Kessel und Aufbauten. An ihrem schlanken Kamin prangt die goldene 13. Es ist ein herrlicher Zug. Ein Verkehrsfreund gibt am Bahnsteig eine Runde "Muntermacher" aus, den wir auf den wunderbaren Zug und den heutigen Tag trinken. Es scheint schon wieder die Sonne, und jetzt schaut niemand mehr vorsichtig zum Himmel auf, wenn wir vom "Verkehrsfreundewetter" reden. Es gibt dieses legendäre Wetter noch genauso wie es eine Verkehrsfreundefahrt mit so reger Beteiligung gibt.
Ich steige in den ersten Wagen gleich hinter der Lok und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen: Die Lok fährt rückwärts. Die schwarze Rauchkammertür und ein rundes Licht schauen mich von der Wagenplattform an, und vor mir ragt der Kamin mit der glänzenden Nummer hoch auf. Falls es also einen Fotohalt mit Brocken im Hintergrund geben sollte, dann mit Lok verkehrt. Diese Lösung ist auf jeden Fall für weitere Fotohalte die geschickteste. Kurz nach acht Uhr morgens starten wir zu unserer zweiten Sonderfahrt auf den Gleisen der Harzer Schmalspurbahnen. Die Wagen sind beste Holzklasse: Eng, weil früher die Menschen kleiner waren und weniger Platzbedürfnisse hatten. Vor allem hatten sie keine Fototaschen dabei.
Kurz nach Wernigerode-Westerntor steigen unsere beiden Mamis mit Kindern und Kinderwagen zu. Jetzt ist wirklich was los im Zug. Die Kinderwagen sind im ersten Wagen untergebracht, der ein Gepäckabteil hat. Die Kinder werden auf Ersatzväter und mütter verteilt. Valentin läuft von vorne bis hinten und wieder zurück durch den Zug und hält nach der Dampflok und seinem Vater Ausschau.
Bis Drei Annen Hohne befahren wir die gleiche Strecke wie gestern. Hier waren wir in Fahrtrichtung rechts zum Brocken abgebogen. Heute geht es nach links in Richtung Elend, Sorge und Benneckenstein weiter nach Süden. Kraftvoll stampft Lok 13 durch den sonnigen Wald. Ein Mitarbeiter von Herrn Bauer kommentiert die Strecke per Mikrofon, erzählt Besonderheiten der durchfahrenen Bahnhöfe und Begebenheiten aus vergangenen Zeiten. Aber das Schönste für mich ist die Musik, die unsere Dampflok spielt.
Der Wagen hat eine Plattform, wie sie früher an Personenwagen üblich war. Kommen Sie mit mir hinaus und lauschen Sie dem Lied, das unsere Lok singt. Es dauert nicht lange und Sie hören nichts anderes mehr, keine Geräusche aus dem Wageninneren, kein Gespräch mehr neben Ihnen. Ungewollt verfallen Sie in den steten, beruhigenden Rhythmus der Fahrt: Schschscht, schschscht, schschscht - langsamer und kräftiger, wenn es den Berg rauf geht, schneller und eine Tonlage höher beim Abwärtsfahren. Wenn Sie schräg nach unten in die Lok blicken, sehen Sie die Treibstangen bei der Arbeit: Schschscht, schschscht, schschscht - so klingt die harmonische Melodie, die Sie den ganzen Tag nicht mehr loslassen wird.
Daß das Team auf der Lok eine andere Vorstellung von Scheinanfahrten hat als die Männer gestern zeigt sich gleich beim ersten Fotohalt: Die Strecke verläuft entlang eines Waldes vorbei an einer großzügigen Lichtung. Hier postieren wir uns, um den Zug aus einer leichten Kurve auf uns zu fahren zu lassen. Zwar steht die Lok verkehrt rum - Sie erinnern sich - aber das tut dem schönen Bild keinen Abbruch. Weit drückt der Zug zurück und jagt dann mit viel Dampf und Qualm an uns vorbei. So etwas ging gestern weit gemütlicher vor sich. Für Filmer ist der schnell vorbei fahrende Zug ein echter Leckerbissen, denn es wird die wirkliche Fahrgeschwindigkeit täuschend real simuliert. Die Fotografen müssen sich schon beeilen, rechtzeitig auf den Auslöser zu drücken. Da zeigen sich wieder die Vorteile der modernen Fotokameras: Einmal gedrückt schießt die Kamera ein Bild nach dem anderen, so daß man hinterher das beste aussuchen kann.
In Eisfelder Talmühle wird erst einmal der größte Durst der Lok beim Wasserfassen gestillt, und sie wird umgesetzt, denn wir ändern die Fahrtrichtung. Eine ansehnliche Gruppe Fotografen macht sich nun auf den Weg zu dem Fotostandpunkt, von dem aus die Parallelausfahrt aus Eisfelder Talmühle aufgenommen werden soll. Der Planzug kommt aus Süden, also aus Richtung Ilfeld, zur Weiterfahrt nach Norden zum Bahnhof Drei Annen Hohne. Unser Zug simuliert die Ausfahrt aus Eisfelder Talmühle nach Nordosten in Richtung Stiege. Auf einem kurzen Stückchen mitten im Wald verlaufen die beiden Gleise parallel aus einer Rechtskurve kommend und in einer Linkskurve in die jeweilige Richtung verzweigend. Sie liegen so eng beieinander, daß zwar einige wenige Menschen zwischen der Verzweigung stehen können, aber nicht die ganze Gruppe. Ein Waldstandpunkt ist deshalb wieder angesagt. Mehrstöckig reihen sich die Fotografen auf dem bißchen Platz übereinander, um das Schauspiel auf Zelluloid zu bannen.

Eisfelder Talmühle (55 kb)

Da kommen sie: unser Zug - nun mit der Lok richtig herum - von uns aus gesehen links, der Planzug rechts. Die Geräusche der beiden Dampflokomotiven werden von den Bäumen aufgefangen und wie ein vielfach verstärktes Echo in der schmalen Gasse wiedergegeben. Dieser Ohrenschmaus wird begleitet von einem einzigartigen Bild: Eine schwarze Dampflokomotive, die mit ihren zahlreichen beige/roten Wagen der HSB das rechte Gleis entlang dampft und eine grüne Dampflokomotive, die mit ihren wenigen, grünen Wagen das linke Gleis befährt. In exakt dem richtigen Augenblick lassen beide Loks Dampf ab und grüßen sich per Pfiff. Um den Blick auf den Planzug nicht zu verbauen, verlangsamt unser Zug das Tempo und - wie im richtigen Leben - zieht der Planzug in der Innenkurve vorbei, überholt den Sonderzug und dampft, begleitet von einem langen Pfiff weiter nach Drei Annen Hohne. Da unser Zug viel kürzer ist, ist er schon außer Sicht, als noch die Wagen des Planzuges aus der Kurve fahren. Reste des Rußes hängen in den Bäumen. Der Schall der Loks dringt noch immer zu uns durch.

Der Jubelschrei eines Fotografen trifft genau die Empfindung, die wir alle in diesem Moment haben: Das war grandios. Leider können die beiden Teams auf der Lok nicht hören, wie wir applaudieren. Aber wir tun es. Theoretisch sollte man jetzt seine Kamera einpacken, denn: ,Was kann das noch übertreffen?' Aber - wir haben es in den letzten Tagen gelernt - es gibt immer noch ein Mehr.
Nun folgt ein Feuerwerk an Fotohalten, und wenn wir gestern und heute von Fotohalten sprechen, dann reden wir von Scheinanfahrten. Vorbei rast der Zug an einer Verladestation. Er fährt aus einer Kurve auf uns zu, um scheinbar im letzten Augenblick die Richtung zu ändern und an uns vorbei zu fahren. Das alles bei dem schönsten Sonnenschein, den Sie sich vorstellen können. Welch ein Tag!

Wir erreichen Stiege, jenen Ort, der am gestrigen Abend für so viel Gesprächsstoff gesorgt hatte. In Stiege teilt sich die Strecke der Harzer Schmalspurbahnen wiederum: Geradeaus nach Norden geht es weiter nach Hasselfelde, in östlicher Richtung gelangt man nach Alexisbad und später nach Gernrode. In diese Richtung ist normalerweise das Umsetzen der Lok erforderlich. Bei den Planzügen ist dies auch an der Tagesordnung. Nun haben wir aber einen Sonderzug, und der soll die Schleife bei Stiege befahren, die sonst nicht von Personenzügen befahren wird. Durch das Umsetzen der Lok in Eisfelder Talmühle fährt unser Zug nun vorwärts einmal ganz langsam durch die Schleife. Wir stehen auf einer kleinen Anhöhe und beobachten und fotografieren diese Fahrt. Wären wir in Wernigerode vorwärts losgefahren und hätten die Parallelausfahrt dafür mit Lok rückwärts gemacht, hätten wir mit Hilfe der Schleife die Lok wieder ,drehen' können. Natürlich hätte man auch simpel und einfach die Lok umsetzen können, aber das tut man ja sowieso. Das ist nichts besonderes. Da wir aber mit Schornstein voraus angekommen sind, reicht es, einmal den Zug durch die Schleife fahren zu lassen und dann weiterzudampfen nach Alexisbad.

Kehrschleife in Stiege

Das enge Land öffnet sich, und obwohl die Silhouette des Harzes zu sehen ist, hat man doch den Eindruck von Flachland. Wiesen, Felder, ein paar Bäume, kleine Erhebungen kennzeichnen diesen Streckenabschnitt. Eine dieser Kuppen nutzen wir wieder für eine wunderbare Scheinanfahrt. Dann - es ist kurz nach zwölf Uhr, und wir sind leicht verspätet - erreichen wir Alexisbad, das Mittagsziel des heutigen Tages.
Auch hier ist eine Parallelausfahrt mit dem von Gernrode nach Stiege fahrenden Planzug vorgesehen. Damit die Darbietung stattfinden kann, wird extra für diesen Akt unsere Lok ans andere Ende des Zuges umgesetzt. Unser Zug soll die Ausfahrt eines Zuges nach Harzgerode fingieren, das östlich von uns liegt. Der ganze Plan hat nur einen großen Nachteil: Die Abfahrt des Planzuges erfolgt um ca. 13 Uhr, also genau in der Zeit, in der es Mittagessen gibt. Deshalb hatten unsere Organisatoren mit den Verantwortlichen im Restaurant abgesprochen, daß die Töpfe bei unserer Ankunft schon vorgeheizt sind und Suppe und Hauptspeise sofort serviert werden. Nach diesem schnellen Teilessen würden wir dann die Parallelausfahrt aufnehmen und zum Nachtisch zurück ins Lokal kommen. Aber das klappt nicht so ganz, denn das Restaurant ist übervoll und weder Suppe noch Vorspeise kommen in der verabredeten Zeit. Gerade als die Suppe kommt, wäre es Zeit, zu gehen. Wir hauen die heiße Suppe in Rekord verdächtiger Zeit runter und gehen um Viertel vor eins ganz schnell zum Fotostandpunkt.
Mittlerweile haben fleißige Hände unsere Lok umgesetzt, und warten nun ebenfalls auf die Abfahrt des Planzuges nach Stiege, bespannt mit Lok 99 6001. Die Harzer Schmalspurbahnen verkaufen eine Armbanduhr, bei der statt eines Sekundenzeigers eine Dampflokomotive ihre Runden dreht: die Lok 99 6001. Ich hatte mir schon in Ilfeld eine solche Uhr zugelegt und war nun begierig, die Lok auch im Einsatz zu sehen.
Zwar verlaufen die beiden Strecken ein kleines Stückchen parallel, sie sind jedoch in der Höhe unterschiedlich. Das Gleis nach Harzgerode liegt hier gut einen halben Meter höher als das Gleis nach Stiege. Neben den Schienen verläuft die Durchgangsstraße. Wir haben also wieder wenig Platz, Aufstellung zu nehmen, denn auf der Straße donnern Lkws und Pkws beängstigend nah an uns vorbei. Nur ein holländischer Autofahrer ahnt etwas Außergewöhnliches und schickt seine Begleiterin an die Gleise, um Fotos zu machen. Sie postiert sich direkt vor uns, als gäbe es nicht mindestens 40 Fotografen hinter ihr, der sie im Bild steht. Ich habe es bisher selten gehört auf dieser Studienfahrt, dieses laute, anhaltende und durchdringende ,Hey, weg da, weg da' der Fotografengruppe der Verkehrsfreunde Stuttgart. Es dauert lange, bis die Frau begreift, daß nur ein großer Schritt in den Wald sie unsichtbar macht.

Gut, daß auch die Züge auf sich warten lassen. Aber als sie kommen, ist dieser Zwischenfall vergessen: Die Kameras sind schußbereit und wie beim Militär heißt es wieder: Feuer frei, aber friedlich! Links von uns fährt der Planzug mit 99 6001 auf dem Außengleis, rechts von uns unser Traditionszug auf dem höher gelegenen Innengleis der Kurve. Perfekt, perfekt, wie beide Züge auf uns zufahren, pfeifen, dampfen, rußen und, ohne sich gegenseitig zu verdecken, an uns vorbeifahren. Bei einer Lok hört man das Durchdrehen der Räder auf den ansteigenden Gleisen: Wieder ist es ein Genuß für Augen und Ohren, was da für uns veranstaltet wird.
Es war Parallelfahrt Nummer vier von vier. Verlangen Sie bitte nicht von mir, mich für eine davon entscheiden zu müssen. Ob Dampfzug und Wipperliese, Drei Annen Hohne, Eisfelder Talmühle oder Alexisbad - jede Fahrt für sich war ein Erlebnis unvergleichlicher Art. Jede Parallelanfahrt war anders, und jede war schön. Genau diese Frage diskutieren wir auf dem Weg zurück ins Restaurant, wo wir den Rest unseres Mittagessen genießen können. Wir kommen alle zum selben Ergebnis: Man kann sich nicht entscheiden, und schließlich muß man sich ja auch nicht entscheiden. Nehmen wir alle Fotohalte und Scheinanfahrten auf dieser Studienfahrt als das, was sie letztlich sind: eine hervorragende Leistung des Personals, eine Wonne für alle Sinne und eine wunderschöne Erinnerung an diesen einzigartigen Dampfplanverkehr der Harzer Schmalspurbahnen.
Kurz nach Alexisbad gelangen wir ins Selketal, jenen Streckenteil, der der Selketalbahn ihren Namen gegeben hat. Die Selke ist ein kleines Flüßlein, das sich durch eine romantische Landschaft windet. Das Tal ist eng. Auf einer Seite ragen Felsen und Berge auf. Hier fährt die Bahn. Direkt neben dem Gleis ist das laubbaumbestandene Ufer der Selke, deren andere Seite von einer Straße begrenzt wird.
Durch die Bäume ist es schwierig, einen durchgehenden Blick auf das Wasser zu erhalten. Wenn er aber da ist, ist er herrlich. Im Bett der flachen Selke sammelt sich allerlei Gestein an, das, vom Wasser in jahrhundertelanger Arbeit glatt geschliffen, in der Sonne wie Silber glänzt. Die Selke schlängelt sich durch das enge Tal, und ihrem Lauf folgt die Bahn. Rechts, links, ein kurzes Stück gerade, durch einen Fels hindurch geschlagen, fällt die Strecke bis Mägdesprung ab, steigt wieder über 100 Meter an und führt schließlich wieder abwärts nach Gernrode.
Die Geräusche der Natur verbinden sich mit denen der Dampflok, nicht einmal die am anderen Ufer fahrenden Autos können die Romantik dieser Strecke stören. Man fragt sich zuweilen, was zuerst da war: der Bach oder die Bahn. Es herrscht einvernehmliche Harmonie. Ich frage mich, wie es an Regentagen oder im Winter hier aussehen mag, und kann es mir nicht vorstellen. Dieser warme Sommertag im Selketal verdrängt alle Gedanken an tief hängende Wolken, an Kälte, an Traurigkeit oder Überdruß. Dieser Tag bewirkt eine so positive Stimmung, daß Sie eigentlich alles Schön finden, was Sie sehen. Es mag ein Traum sein, aber manchmal darf man auch mit offenen Augen träumen.
Noch zwei weitere Fotohalte, die Scheinanfahrten sind, folgen und lassen uns das Kontingent an Filmmaterial für den heutigen Tag restlos überschreiten. Viel zu schnell sind wir in Gernrode angekommen, dem Ort, an dem wir uns für diese Studienfahrt von den Harzer Schmalspurbahnen verabschieden müssen. Die Disziplin und Schnelligkeit der Verkehrsfreunde Stuttgart hatte dafür gesorgt, daß wir mehr Fotohalte auf der heutigen Fahrt absolvieren konnten, als geplant waren. Es besteht deshalb die Möglichkeit, nicht nur das Depot der HSB in Augenschein zu nehmen, sondern auch den ersten Sonnenbrand des Jahres einzufangen.
In einem kleinen Verkaufsladen versorgen wir uns mit Flüssigem und warten am Bahnsteig der DB auf den Zug, der uns nach Halberstadt bringen wird.
Ein ehemaliger DR-Schienenbus, eine sogenannte Blutblase mit Beiwagen, fährt uns nach Quedlinburg, wo wir für die nächsten 20 Minuten den RegionalExpress nach Halberstadt besteigen. Hier ist das Kontrastprogramm des Tages angesagt: eine Straßenbahnrundfahrt. Tagsüber Dampf und scheinbar unberührte Natur, spät nachmittags Straßenbahnen in einer Stadt.
Wer will (oder nicht mehr will) kann jetzt aussteigen aus dem Programm und direkt zurück nach Wernigerode fahren. Ich hatte mich vorher zu dieser Straßenbahnrundfahrt angemeldet und bleibe in Halberstadt, obwohl es mir sehr schwer fällt, Sie nach diesem herrlichen Tag mit Dampf und Selke umzustimmen auf das Leben einer Großstadt in Feierabendstimmung.
Die Straßenbahn in Halberstadt entwickelte sich aus einer Pferdebahn, die seit 1887 bestanden hatte. 1903 war der elektrische Betrieb mit 15 Trieb- und 3 Beiwagen eröffnet worden. Aus den zwei Linien der Pferdebahn waren 4 Linien geworden, alle in der Spurweite von 1000 mm. 1909 wurden 6 Linien betrieben. Doch die Inflation forderte ihren Tribut: 1923 war nur noch eine Linie vom Bahnhof zum Fischmarkt in Betrieb. Ab da ging es wieder aufwärts: 1933 umfaßte die Strecke 4 Linien, die mit 29 Trieb- und 7 Beiwagen befahren wurden. Halberstadt wurde am 8. April 1945 zu über 60% zerstört. Der Straßenbahnbetrieb kam völlig zum Erliegen. Vier Jahre später ist das gesamte Streckennetz wieder in Betrieb. 1974 werden bereits 25 000 Fahrgäste täglich in 19 Trieb- und 11 Beiwagen befördert, aber erst 1983 erfolgte die Wiedereinführung von Liniennummern. Fünf Jahre später ist der Name von VEB Städtischer Nahverkehr Halberstadt in VEB Nahverkehr Halberstadt geändert worden. Die nächste Namensänderung erfolgte 1992, als aus dem volkseigenen Betrieb die "Halberstädter Verkehrs-GmbH" (HVG) wurde. Heute betreibt man ein Netz mit insgesamt knapp 17 km Länge.
Ungefähr 1½ Stunden soll unsere Straßenbahnrundfahrt dauern, wobei ein Teil des Netzes befahren werden soll. Zwei GT4 aus Freiburg, ehemalige Stuttgarter, waren dafür vorgesehen. Die Mitarbeiter der HVG haben aber einen Plan, der eine Netzbefahrung vorsieht. Wir hatten ja auf der Fahrt vom Brocken festgestellt, daß sich die Verkehrsfreunde im Laufe einer Studienfahrt von Eisenbahnfans zu Eisenbahnfreaks entwickeln, und hier wird nun der Beweis angetreten: Wenn schon der Plan der zuständigen Verkehrsbetriebe eine vollständige Netzbefahrung vorsieht, obwohl sie nicht geplant war, dann muß man dieses Angebot auch nutzen und tun, was zu tun ist: Straßenbahn spielen, aber richtig!
Die Zeit ist unser größtes Problem: Wenn wir also das ganze Netz befahren wollen und trotzdem pünktlich um zehn vor acht am Zug nach Wernigerode sein möchten, müssen wir Querverbindungen befahren, die üblicherweise nicht befahren werden. Dazwischen muß den Verkehrsfreunden, die vorher nach Hause wollen, die Möglichkeit dazu gegeben werden. Es entstehen Diskussionen, ob es überhaupt eine frühere Gruppe gibt, wer mit welcher Gruppe fährt und mit welchem Gruppenfahrschein (immerhin gibt es zwei) und vor allem wann. Schließlich fahren doch alle mit, weil das Gerede viel zu lange dauert, und ein möglicher früherer Zug schon längst abgefahren ist, bis die Verantwortlichen zu einem Resultat gekommen sind.
Das Personal hat es wirklich schwer, uns noch ein paar schöne Stunden in Halberstadt zu präsentieren, aber sie schaffen es. Sei es an der niveaugleichen Überquerung der Straßenbahn mit den Gleisen der DB AG, bei der Einfahrt zum Depot oder mitten auf der Straße, mitten in der Stadt - es gibt Fotohalte ohne Ende, sehr zum Unwillen und Entsetzen der Autofahrer links, rechts und hinter uns.
Wir erreichen eine der drei Endpunkte des Netzes, die mit einer Schleife versehen sind. Während unsere beiden Bahnen in die Schleife einfahren, kommt der Planzug, der lediglich die Richtung ändert und nicht durch die Schleife muß. Unser erster Straßenbahnzug ist knallrot, die Werbung macht's. Der zweite GT4 trägt die grüne Stadtfarbe von Halberstadt, die auch der Planzug hat. Wir denken, es sei eine gute Idee, die beiden grünen Züge nebeneinander aufzunehmen, den Sonderzug aus der Schleife heraus, den Planzug auf die Strecke nach der Schleife einmündend. Voraussetzung ist aber, daß der Planzug auf jeden Fall hinter dem Sonderzug bleibt, denn der Planzug ist ein Pendelzug, der nie den Hauptbahnhof erreicht. Würde er sich zwischen die beiden Sonderzüge schmuggeln, müßte der hintere, grüne Zug bis an sein Straßenbahnende mit dem anderen pendeln und die im Sonderzug befindlichen Verkehrsfreunde dürften nie mehr den Fernsehturm von Stuttgart erblicken. Ulf Weidle hatte die Idee zu diesem Fotohalt und spurtet los zum Fahrer des Planzuges. Ein Nicken - es kann los gehen.
Langsam fährt der vordere, rote Sonderzug auf die Strecke, unser grüner Zug wartet, bis der Planzug gleichauf ist. Aber, so ganz traut er der Sache nicht: Millimeter um Millimeter schiebt er sich vorwärts und blockiert die Strecke für den Planzug, damit dieser ja nicht auf die Idee kommt, sich dazwischen zu schieben. Wir können uns vor Lachen kaum halten. Ist es doch zu schön, den Machtkampf der zwei Fahrzeuge zu beobachten.

Straßenbahn in Halberstadt

Zurück in der Stadt gibt es noch weitere schöne Fotohalte. Einen davon darf ich nur hinterher auf den Dias meines Mannes erleben. Wie leider so oft, erfahren nur die Verkehrsfreunde im Wagen der Organisatoren, was gerade Sache ist. Im anderen Wagen erfährt man nichts. So kommt es, daß von einem herrlichen Halt mit Teich im Vordergrund und daran entlang fahrender Bahn nur Eingeweihte erfahren. Manchmal habe ich den Eindruck, daß durch ein Minimum an Information die Menge der Fotografen an diffizilen Stellen und damit die Menge derer, die jemandem im Bild stehen könnten, reduziert werden soll. Aber ich hoffe, daß dies ein falscher Eindruck ist und man sich bei den Organisatoren überlegt, wie diesem Informationsdefizit abgeholfen werden kann.

Mit viel Witz und Gelassenheit schaffen es die Mitarbeiter der HVG tatsächlich, uns nach dem vielseitigen Tagesprogramm noch einmal zu begeistern. Man hat was versäumt, wenn man den Ausflug nach Halberstadt nicht mitgemacht hat.
Nach einem Abstecher ins Depot sind wir fertig - in jeder Hinsicht. Wernigerode und das Treffhotel rufen uns mit aller Macht zurück. Nur eine knappe halbe Stunde fährt man von Halberstadt aus nach Wernigerode. Für die meisten ist dies die Gelegenheit, bei geschlossenen Augen, abgeschalteter Kamera und entspanntem Gesicht eine kleine, schläfrige Pause einzulegen.
Trotz später Stunde verwandeln wir uns rasch von verschwitzten Verkehrsfreunden in wohlriechende Abendmenschen und prüfen weiter die gastronomische Situation von Wernigerode. Von meinem letzten Besuch war mir ein sehr geschmackvolles Neubauareal mitten in der Stadt in Erinnerung, das sich hervorragend in die Silhouette der Fachwerkhäuser einreiht. Erst, wenn man durch einen kleinen Durchgang in den Innenhof geht, merkt man, daß es sich um neue Gebäude handelt. Im Innenhof plätschert ein Brunnen und kleine Geschäfte laden zum Stöbern ein. Gut, daß alles schon geschlossen hat. Die Architekten haben nicht nur an das optische, sondern auch an das leibliche Wohl gedacht und ein gemütliches Kellerlokal integriert. Mit einigen Verkehrsfreun-den beschließen wir hier bei (schon wieder) viel zu viel Essen und einem leckeren Trunk diesen ereignisreichen Tag.
Die laue Nacht in Wernigerode nutzen wir noch zu einem letzten Abstecher zum schön beleuchteten Rathaus. Ein letztes Mal für heute werden die Fotos gezückt und die nächtliche Stimmung auf dem menschenleeren Marktplatz per Dauerbelichtung eingefangen. Ich bin total bettreif. Mit der Entspannung und dem Nichtstun kommt auch die Ermüdung. Man müßte einmal einen Kilometerzähler an die Schuhe anbauen und abends ablesen, welche Strecken man zurückgelegt hat. Die Ein- und Ausstiege aus den Zügen, selbst wenn es so bequeme Ottohalte wie heute sind, müßten dann natürlich doppelt zählen. Seltsam, womit man sich kurz vor dem Einschlafen beschäftigt.
An dieser Stelle ist ein riesiges Dankeschön fällig: als erstes natürlich an Herrn Bauer, der mit einer perfekten Organisation die Fahrten mit den Sonderzügen zu einer echten Sensation werden ließ. Selbstverständlich gehen wir davon aus, daß er auch für das grandiose Wetter verantwortlich ist. Als nächstes sagen wir Danke an die Mannschaften auf den Dampfloks, die offensichtlich nichts anderes machen, als täglich Parallelfahrten zu veranstalten und Eisenbahnfreunde zu begeistern. Die eingespielte Mann-schaft auf den Maschinen sorgte dafür, daß jede Scheinanfahrt zu einem gelungenen Knüller wurde. Vergessen sollten wir auch nicht diejenigen, die hinter den Kulissen für einen reibungslosen Ablauf gesorgt haben. Dieser Dank geht natürlich nicht nur an die unsichtbaren Helfer und Mitarbeiter der Harzer Schmalspurbahnen, sondern an die Angehörigen all der Betriebe, die uns bisher derart schöne Tage beschert haben.

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